Rede von Dr. Jürgen Lodemann, Literaturpreisträger der Stadt Stuttgart,
auf der Samstagsdemo am 30.9.2017 Publiziert am 2. Oktober 2017 von Christa Schnepf
Liebe Freundinnen und Freunde von Kopf und Basis,
es war eigentlich bekannt, der Oberrhein zwischen Frankfurt und Basel ist – seit dem Tertiär – ein riesiger Sandkasten, 300 km lang, 50 breit. Mitten darin neuerdings, eingeschlossen in Beton, eine verschüttete enorme Maschine. Poetisch tiefsinniges Bild: ein Bohrgerät, 18 Million teuer – für immer im Beton. Dabei wäre schon früh im Sandkasten zu lernen gewesen, wie riskant es ist, Sand zu untertunneln. In Köln ist beim Tunnelbau ein großes Stadtarchiv in den Sand zer-rutscht, es starben Menschen, versanken Papiere, auch von Heinrich Böll. Nun, nach dem Tunnel-Crash am Oberrhein als „Plan B“ – B, wie Beton. Aliens, wenn sie im Jahr 7412 dort, wo Rastatt mal war, auf Mordsbeton stoßen, die werden rätseln. Ein Heiligtum? Finden dann vom „Menschen“ in Massiv-Beton ein eisernes Ungeheuer: „Herrenknecht“!
Es gab mal einen sehr guten Bundespräsidenten, der kam aus dem Ruhrgebiet und empfahl, einmal im Leben müsse jeder in Rastatt gewesen sein, dort im Freiheits-Museum. Das dokumentiere frühe Kämpfe unserer Vorfahren für Demokratie und Menschenrechte. 1849 kam aber Preußens Militär aus Berlin mit den ersten Eisenbahnen und hat die Freiheitsbewegten zusammengeschossen. Gnadenlos exekutiert wurden die Anführer dieses Versuchs für Grundrechte. Einer nur konnte fliehen, durch den Rhein, hinüber nach Frankreich und in die USA, wurde da Innenminister, Carl Schurz. Rastatt hatte also schon viel früher Schwarze Donnerstage.
Und erlebt nun abermals Denkwürdiges: vor Rastatt, in Baden-Baden, werden täglich tausende Bahnfahrer geprüft, wie gut sie meterhohe Treppen bewältigen können mit Gepäck und Kind und Kegel, mit Rollkoffern und Kinderwagen. Von Freiburg aus war ich soeben noch mitten in diesem Getümmel. Das wirkte wie ein Test für das schwarze Loch im Inneren Stuttgarts. Das ja immer noch kommen soll, obwohl dagegen seit mehr als zehn Jahren mit besten Argumenten energisch und eindrucksvoll protestiert wird, woran ich mich beteiligen durfte, mit einer Rede im voll besetzten Großen Ratssaal der Landeshauptstadt, wo Verantwortliche des Debakels direkt vor mir saßen, Finanzminister, Stadtoberhaupt, denen ich es so deutlich wie möglich machen wollte, das skandalös verkorkste Verkehrs-Konzept der deutschen Bahn, dieses kommen sollende Hindernis für unser Miteinander in Europa. Ein „Airbus auf Schienen“? Hier unmöglich. Derzeit verdrückt sich Verkehrsminister Dobrindt, führt nun die Bayern in Berlin. Bayern hat bis heute das Grundgesetz nie unterschrieben. Das schützt halt nicht die Würde des Bayern, auch nicht die des Deutschen, nur die „des Menschen“.
Im Rathaus den Entscheidenden Entscheidendes zu sagen, half nichts, auch nicht als Direkt-Ansprache, ist aber alles nun nachlesbar, z.B. folgendes: „Auch Freiburg will Bahn-Fortschritte, aber doch erst mal und endlich für Europas viel wichtigere Bahnachse Nord-Süd, die von Hamburg, den Niederlanden, Ruhrgebiet, Köln und Frankfurt in die Schweiz geht und nach Italien, die Strecke, die am Oberrhein dringend auf vierspurigen Ausbau wartet, auf Anbindung an den Gotthard-Basistunnel. Stattdessen mühen sich da auf oft nur zwei Spuren 200 Güterzüge pro Tag, dazu Nahverkehr, Doppelstock-Interregios und ECs und ICEs – quälen sich da von sogenannter Signalstörung zu sogenannter Signalstörung.“
Wörtlich so hab ich im großen Ratssaal zu reden versucht, so deutlich wie möglich – ohne Reaktion. Nun aber abgedruckt in dem schönen Buch „Gegen Drachen“, auch das seit neun Monaten in Stuttgarts großen Zeitungen ohne Reaktion, da
hilft auch kein „Literaturpreis der Landeshauptstadt“. Bei der Volksabstimmung über Stuttgarts wachsende Blamage hatten in meinem Freiburger Stadtviertel Vauban mehr 82 Prozent den Schiefbahnhof abgelehnt. Was half’s? Fürs knappe Ja sorgten die, die reingefallen waren auf ungenierte Lügen.
Half auch nichts, das kommende Desaster komisch zu schildern, mit Spott z.B. über Landesvater Oettinger, der in der Aula der Freiburger Uni zweitausend Studenten belehrte, Kopfbahnhöfe seien nur gut für eine Stadt wie Paris, denn Paris habe Richtung Westen nur noch Viehweiden und den Atlantik – so weit Brüssels Europa-Fachmann. Auffallend, wie oft leitende Bahnleute von einer großen Autofirma kamen, Dürr, Mehdorn, Grube – die türmten autogerechtes Unheil, sorgten nicht erst per Diesel für Unwucht und Schieflage, hatten gelernt, wie man die Bahnkonkurrenz ausschalten kann. Und da stehen sie nun kurz vorm Erfolg, hier in diesem wahrlich finsteren Loch.
Der Schwarze Donnerstag im Schlossgarten war ein Fanal, zeigte zum ersten Mal die kommenden Verrohungen – und zwar von oben her, noch nicht als anonym digitale Hetze, sondern Anonymität kam als Gas-Spray, schoss panzerstark aus Wasserkanonen, verletzte Frauen und Schüler und Alte, die Durchblick hatten auf die Verfahrenheit der Bahnpläne, verletzte klaren Blick auch konkret blutig, den Blick auf ein tatsächlich lebensgefährliches Unglück im Zentrum dieser Stadt, unterdessen berühmt als „Staubstadt Stuttgart“ – sieben Buchstaben „T“. Kritische Theologen malten die sieben „T“ wie Galgen und rückten im berühmten Jesus-Wort ein Wort an eine andere Stelle: „Herr vergib ihnen NICHT, denn sie WISSEN, was sie tun.“
Hier im Innersten der Stadt wuchert ein Monstrum, eines, das nie funktionieren wird, auch dann nicht, wenn das Eisenbahnbundesamt bereit sein sollte zu kriminellen Akten. Wenn dies Amt etwa genehmigen würde, was nie erlaubt sein kann, wenn in diesem Staat Leib und Leben noch was gelten – Leib und Leben gelten offensichtlich nichts in diesem sündhaft teuren Unikum, einem Tiefbahnhof als Schiefbahnhof. Wo 8
Gleise statt 16 nicht halbwegs leisten werden, was vor der Abstimmung vorgelogen worden war, mit Kostenlügen, Leistungslügen.
Da metastasiert sich im Herzen dieser Stadt Lebensgefahr, fataler Brandschutz mit hohen Treppen, zu engen, zu wenigen Lifts. Welch eine Glanztat, Deutschlands best funktionierenden Kopfbahnhof zu ruinieren! Der konnte bei Gefahr nach allen Richtungen sofort verlassen werden – demnächst sind bei Alarm sieben Höhenmeter zu überwinden werden, vor allem über Treppen. Kinderwagen voran?
Diese große, kluge Güter- und Handelsstadt leistet sich, dass zur Central Station kein Güterzug kann, weil er aus dem Loch gar nicht mehr hinauskäme und den im Nadelöhr stockenden Verkehr zusätzlich blockieren würde. Die steile Architektur ist einfach zu steil. Im Grunde ist sie zu meiden von allem, was rollt. Die nun allseits beliebten Rollkoffer dürfen da gar nicht erst rein, wer umklammert denn schon beim Warten auf den Zug unentwegt seinen Koffer? Zu verbieten sind im finsteren Loch auch Kinderwagen. Rollstühle sowieso. Nur gut Trainierte und konzentriert Wachsame haben da Zutritt. Freilich würden in dem Alptraumbahnhof auch Intercitys und Eurocitys und TGVs gern mal wegrollen wollen, wenn das Bremsen doch mal vergessen oder unvollständig geblieben sein sollte – anderswo alles schon passiert!
Ein schwarzes Loch, unfassbar absurd. Hart, jahrelang ansehen zu müssen, wie die, die man mal gewählt hatte, brav auslöffeln, was ihnen jahrzehntelang andere eingebrockt hatten. Dem Debakel widersteht nun aber wunderbares Glück. In dieser Stadt arbeitet eine unkaputtbare Opposition, hält Kopf und Kopfbahnhof hoch. Ingenieure, Unternehmer, Studenten, Selberdenker quer durch Stuttgarts Einwohnerschaft, sogar Theologen. Einzigartig mit hunderten Montags-Kundgebungen, einmalig auch und vor allem mit konstruktiver, mit realistisch konkreter Gegen-Arbeit, mit dem Projekt „Umstieg 21“, das den Kopfbahnhof und das Zentrum dieser Stadt retten wird! Bravo all den Standhaften rund um einen wie Klaus Gebhard. Bravo auch den „Parkschützern“, die allen Irrsinn
dokumentieren, damit Spätere sich erkundigen können, wie denn nur eine so tüchtige und kluge Stadt dermaßen hat versagen können – ja, klug: Stuttgart war jetzt die Stadt mit den niedrigsten AfD-Prozenten. Dokumentiert wird da ein Lehrstück, vom Blenden und Betäuben mit immobiler Immobilien-Gier, von autoritär autistischer Auto-Denkweise, endend im Beton. Und nun auch mit staatsanwaltlicher Ermittlung wegen „schädigender Untreue durch den Weiterbau von S21“ – ja, gegen Korruption, auch gegen meine Lieblinge Kefer und Pofalla. Die reale Rohheit des Lehrstücks „S21“ übertrifft Brechts Stücke um Längen. Wer denn auch könnte je eine Figur wie Mappus erfinden und glauben.
Hier hatte schon kurz nach 1800 ein Dichter, der nur 24 Jahre alt wurde, prophetischen Durchblick: Wilhelm Hauff in „Das kalte Herz“, immer neu verkannt als Märchen. Das nimmt lange vor 1848, lange vor Marx vorweg, märchenhaft genau, was sich derzeit abspielt als kaltes Kapitalgewerbe: „Wo viel Geld ist, da sind die Menschen unredlich“, „Hauptgeschäft war, mit Geld zu handeln“. Hier nachlesbar! Zum Glück gibt’s hier – wie im „Kalten Herz“ – Gegenfiguren. Eisern und konsequent formulierend Eisenhart von Loeper, Dieter Reicherter, Peter Conradi und viele andere.
So einen traf ich auch in Fessenheim – vor dem AKW 18 km südwestlich von Freiburg – die Wolke braucht bei Südwest bis Freiburg nur eine halbe Stunde, bis Stuttgart einen halben Tag. In dem AKW-Dorf Fessenheim traf ich den jungen Laurent in seinem Laden für Photo-Voltaik – unter der Devise „Donnez des ailes à vos projets“ – gebt Euren Projekten Flügel!
Danke, Laurent! Und Danke und Bravo hier und jetzt: all den Unverdrossenen – Flügel!
Rede von Dieter Reicherter, ehemaliger Staatsanwalt und Vorsitzender Richter
am Landgericht Stuttgart, auf der Samstagsdemo am 30.9.2017 –
vorgetragen von Reiner Weigand
Liebe Freundinnen und Freunde,
da ich in letzter Zeit schon mehrmals oben auf der Bühne stand, will ich euch heute meinen Anblick ersparen und lasse meinen Text durch einen Fähigeren vortragen. Denn gestern startete ich zu einer nicht aufschiebbaren Reise in das Vereinigte Königreich. Das gab mir Gelegenheit, von demokratisch legitimierten Sicherheitsbehörden an mir staatliche Maßnahmen, auf die wir fast ein bisschen stolz sein dürfen, vollziehen zu lassen: Gesichtserkennung, Registrierung der Flugdaten, Durchleuchten mit dem Nacktscanner und andere Spezialitäten gaben mir das Gefühl, geliebt zu werden. Ich habe mir noch überlegt, ob nicht aufgrund eines Rahmenbefehls meine Rede direkt aus Torquay, wo ich heute bin, abgehört und zu Euch übertragen werden könnte.
Gestattet sei mir noch der Hinweis, dass ich nicht verstehe, warum niemand diese nützlichen Möglichkeiten des wehrhaften Rechtsstaats zum Beispiel an Innenminister de Maizière ausprobiert. Es wäre doch mal für seine Untertanen interessant, was er den ganzen Tag so treibt. Die NSA und wie die Geheimdienste alle heißen, vielleicht auch irgendwelche Hacker, müssten doch eigentlich in der Lage sein, hier zur Aufklärung der Menschheit beizutragen. Das wäre doch einmal etwas anderes als immer nur brave Untertanen zu bespitzeln. Und wenn es schon Rahmenbefehle gibt, könnte man doch mit den vielfältigen Möglichkeiten auch einmal das Autokartell beobachten und die Gründe für den Tunneleinbruch in Rastatt aufklären.
Nach diesem Ausblick in eine bessere Zukunft nun endlich zum Thema: Die Forderung nach der Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte im Einsatz ist nicht neu und war ein wichtiger Punkt der
Abschlusserklärung des Bürgertribunals zum 30.9.2010. Trotz vieler politischer Versprechungen und der Vereinbarung im grün-roten Koalitionsvertrag (lang lang ist’s her) ist es im Ländle dazu nicht gekommen. Interessante Hinweise dazu habe ich in einem Beitrag des grünen Innenpolitikers Uli Sckerl im neuen Buch „Sieg der Spatzen“ gefunden. Da las ich, diese Kennzeichnung sei trotz dieser vertraglichen Vereinbarung an der SPD-Fraktion gescheitert. Merke: Verträge sind nur einzuhalten, wenn es um ‚Stuttgart 21‘ geht.
Bekanntlich wurde dann von Grün-Rot noch kurz vor den Landtagswahlen des vergangenen Jahres als Ersatz ein Bürgerbeauftragter des Landes eingeführt, übrigens gegen die Stimmen von CDU und FDP. Sckerl verrät nun, in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU sei es den Grünen gelungen, die von den Schwarzen verlangte Aufhebung des Gesetzes abzuwehren. Da wissen wir also nun genau, wo die Gegner einer Kennzeichnungspflicht und eines Ansprechpartners für Bürgerinnen und Bürger sitzen. Es sind genau diejenigen, die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz im Schlossgarten und für die mangelhafte Aufklärung und gelungene Vertuschung tragen. Mir fällt dazu das Motto „Fünf Jahre Strafvereitelung“ unserer Veranstaltung vor zwei Jahren ein.
Wir wollen aber nicht jammern, sondern die Zugangsmöglichkeiten zum Bürgerbeauftragten Schindler nutzen. Mit ihm hatte ich bereits mehrfach Kontakt und er freut sich über Arbeit. Demzufolge hat er auf meine Beschwerde wegen der Videoaufzeichnungen bei der Grundsteinlegung im September 2016 mitgeteilt, anlassloses Videographieren könne eine einschüchternde Wirkung haben und Menschen von der Teilnahme an der Versammlung abhalten. Er habe diese Problematik mit dem Stuttgarter Polizeipräsidenten besprochen. Bevor Ihr jetzt überglücklich seid: Der Bürgerbeauftragte kann nur vermitteln, nicht entscheiden. Und auch nicht die Polizei anweisen, das Filmen zu unterlassen. Ich meine, dass schon das Bereithalten der Kameras und Verwenden von Bodycams zur Einschüchterung der Versammlungsteilnehmer führt.
Auch wenn es nun schon sieben Jahre seit der Niederschlagung einer friedlichen Versammlung sind, können wir den Mantel des Vergessens nicht ausbreiten. Zu viel ist immer noch „Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt.“, wie wir unser Buch zum Wasserwerferprozess genannt haben. Nach dem vom Landtag beschlossenen Polizeibericht, der auch nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts, wonach das Tun und Treiben der Polizei rechtswidrig und unverhältnismäßig war, nie geändert wurde, sollen die Demonstranten Schuld an allem haben. Hierzu hat kein linker Chaot, sondern der Fachlehrer in der polizeilichen Aus- und Fortbildung und Diplomkriminologe Martin Herrnkind in „Sieg der Spatzen“ ausgeführt: Die insgesamt zwei polizeilichen Abschlussberichte zum Schlossgarteneinsatz „verschleiern Fehler nicht nur, sie enthalten unwahre Aussagen und Suggestionen“. Und er beklagt, dass diverse Anzeigen gegen Einsatzkräfte eingestellt werden mussten, weil die Verdächtigen nicht hatten identifiziert werden können. Herrnkind vergleicht den Polizeipräsidenten Stumpf wegen seines mangelhaften Einsatzplans mit einem Pokerspieler und kritisiert, der Einsatz von Wasserwerfern sei „mit einer nicht nachvollziehbaren Inkompetenz“ erfolgt.
Diese Aussage halte ich für sehr wichtig, denn bekanntlich setzt die Polizei in unserem Land auch weiter Wasserwerfer ein. Man möchte fragen: Hat die Polizeiführung aus dem Schwarzen Donnerstag gar nichts gelernt? Offensichtlich teilt man die Meinung, der Einsatz von Wasserwerfern verstoße sogar gegen die Menschenrechte, in Deutschland nicht. Man denke auch an die Wasserwerfer beim Hamburger G-20-Gipfel. Ich rede nicht von Einsätzen gegen Gewalttäter, sondern von denjenigen gegen friedliche Versammlungsteilnehmer, was ja durch Politik und Medien wunderbar vernebelt wurde durch die Schilderung, es habe in Hamburg nur gewalttätige Linksextreme gegeben. Übrigens gab es in Hamburg wie bei uns vor sieben Jahren Hinweise darauf, bei den Demonstrationen hätten Polizeibeamte in Zivil und sogenannte Agents Provocateurs in staatlichem Auftrag in die Versammlungsfreiheit eingegriffen oder gar Menschen zu Straftaten verleitet.
Auch nach der medienwirksamen Entschuldigung für den Polizeieinsatz, die Ministerpräsident
Kretschmann anlässlich der eindeutigen Entscheidung des Stuttgarter Verwaltungsgerichts ausgesprochen hatte, bleibt ein schaler Beigeschmack. War es nicht seine Regierung, die noch kurz zuvor beim Verwaltungsgericht die Abweisung der Klage der Schwerverletzten gefordert hatte, weil der Polizeieinsatz rechtmäßig gewesen sei? Und wo bleibt der längst fällige Schritt der Politiker und Polizeiführer, die damals verantwortlich waren, diese Verantwortung auch zu übernehmen und sich zu entschuldigen?
Der Bogen von denjenigen, die Leib und Leben friedlicher Versammlungsteilnehmer nicht respektierten, zu denjenigen, die ihre gesetzlichen Verpflichtungen zur Luftreinhaltung missachten und Leib und Leben der Bevölkerung durch weit überhöhte Feinstaub- und Stickoxidwerte gefährden, ist schnell zu spannen. Wieder einmal sieht man, dass es bei unserer Bewegung nicht nur um einen Bahnhof geht, sondern um eine bessere Politik für die Menschen. Um den verstorbenen Schlichter Heiner Geißler zu zitieren: „Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei“.
Und so wollen wir nicht nur im Bahnhof, sondern bei allen Schicksalsfragen – oben bleiben!
Rede von Joe Bauer, Journalist und Stadtflaneur, auf der Samstagsdemo am 30.9.2017
Publiziert am 2. Oktober 2017 von Christa Schnepf
Guten Tag, verehrte Protestgemeinde von Stuttgart,
schön anzuschauen, dieser bunte, bewegende Haufen am Bahnhof. Einem Hauptbahnhof, dem man das Haupt abschlagen will – anstatt den Kopfbahnhof zu behalten.
Sieben Jahre sind vergangen seit der Polizeiattacke auf die Menschen bei ihrem Protest gegen Stuttgart 21 im Schlossgarten. Sieben Jahre sind verdammt viel Holz – das
Holz können wir durchaus wörtlich nehmen, beim Blick auf die zerstörte Natur im Park.
Liebe Freundinnen und Freunde, wenige Tage nach dem 24. September kann ich es mir nicht verkneifen: Vor sieben Jahren hatten wir den Schwarzen Donnerstag – heute treffen wir uns beim ersten Braunen Samstag nach der Wahl, in einer beschämenden historischen Phase der Bundesrepublik. Sicher hat die Mehrzahl von uns 2010 nicht damit gerechnet, dass schon sieben Jahre später fast eine Hundertschaft von Rechtsnationalisten mit Nazis in ihren Reihen in den Bundestag einziehen wird, unterstützt im braunen Sumpf von gewaltbereiten Banden und ideologisch aufgerüsteten Intellektuellen. Ich spreche hier von den wirklich gefährlichen Rechtsextremisten – und nicht pauschal von einer bestimmten Wählerschaft.
In den Anfangstagen unseres Protests gegen Stuttgart 21 waren viele von uns vor allem mit dem Landtag und Gemeinderat beschäftigt. Heute beschleicht mich das Gefühl, dass sich der Großteil unserer Gesellschaft schon daran gewöhnt hat, dass im Landes- und im Stadtparlament Abgeordnete mit völkischer, mit menschenverachtender Gesinnung ihr Unwesen treiben. Deshalb müssen wir uns jetzt vornehmen, mit Wachsamkeit und Mut den Rechtsruck tagtäglich vor der eigenen Haustür zu bekämpfen.
Die Frage, was solche Themen mit Stuttgart 21 zu tun haben, bin ich als halbwegs regelmäßiger Demoredner schon gewohnt. Bereits vor Jahren haben mir Demoteilnehmer geschrieben, ich solle mir Solidaritätsbekundungen mit Antifaschisten gefälligst sparen. Solche Dinge hätten auf S21-Demos nichts zu suchen.
Das sehe ich anders. Als vor wenigen Jahren in Stuttgart die Menschen massenhaft gegen das milliardenschwere Immobilienprojekt und die verheerenden Folgen für die ganze Stadt auf die Straße gingen, haben nicht alle nur gegen den Bau des sogenannten Tiefbahnhofs demonstriert. Viel mehr haben wir uns mit diesem Protest auch gegen die Arroganz der Macht in diesem Land und in dieser Stadt
gewehrt. Wir haben Widerstand geleistet gegen das rigorose Profitdenken in der Politik. Widerstand gegen den vom Neoliberalismus geprägten Größenwahn der Herrschenden – gegen die unverfrorene Verschwendung von Geld, das nicht Politiker, sondern die Bürgerinnen und Bürger erarbeitet haben. Wir haben gerufen: Wessen Stadt? Unsere Stadt! Und das tun wir heute noch.
Wenn inzwischen rechtsgerichtete Kräfte mit Nazis in ihren Reihen auf dem Vormarsch sind, dann sind daran auch die herrschenden Parteien schuld. Für die ist das Wort Gerechtigkeit nur noch eine Propagandaphrase. Gerechtigkeit aber muss für uns heute heißen: Umverteilung und Rücksicht auf Menschen, die benachteiligt werden oder einfach nur Pech hatten.
Wir wissen, dass viele Parlamentarier in ihrer Überheblichkeit jeden für naiv erklären, der eine gerechte Verteilung der Reichtümer fordert. Sie wollen uns weismachen, dass die verschleuderten Milliarden für das Größenwahnprojekt Stuttgart 21 nichts damit zu tun haben, wenn gleichzeitig für existenzielle Bedürfnisse der Menschen keine Kohle da ist. Wenn in einer Stadt voller Einkaufsklötze ein paar Euro für die Sanierung maroder Schulhaustoiletten nicht bewilligt werden. Neulich habe ich in einer Stadtteilzeitung namens ‘s West-Blättle gelesen, die Aktion „Sport im Park“ müsse auf dem Leipziger Platz gestrichen werden, weil kein Geld mehr fürs Rasenmähen da sei. Welcher geistige Kahlschlag steckt hinter einer solchen Kommunalpolitik?
Viele von uns haben in der heißen Phase von S21 geglaubt, Politik ließe sich allein durch Wahlen ändern. Ich muss Sie hier nicht an den Sturz des schwarzen Gruselkabinetts 2011 im Landtag erinnern. Und es wäre zu banal, Parteien-Bashing zu betreiben. Hoffnung ist nun mal nicht grün, so wenig wie der Kretschmann.
Die Hoffnung aber – und das ist wichtig – sind Menschen, die sich nicht alles gefallen lassen. Die ein Bewusstsein für Gerechtigkeit haben. Die Hoffnung sind Menschen, die bereit sind, sich Bündnissen anzuschließen, um
für ihr demokratisches Recht auf Protest, für Teilhabe und Mitsprache zu kämpfen. Die Hoffnung sind bunte Bündnisse demokratischer Kräfte. Dies ist gerade jetzt nötiger denn je.
Es hätte wenig Sinn, immer nur zu lamentieren: Schuld sind jene und diese, die Grünen und die Schwarzen, die Roten und die Gelben. Vielmehr müssen wir laut und deutlich sagen: Alle, die etwas tun gegen die unsozialen Zustände und die gefährlichen Machenschaften alter und neuer Demokratiefeinde – all diese Couragierten sind unsere Hoffnung. Wir brauchen eine neue, eine starke Opposition. Und um die aufzubauen, müssen wir Berührungsängste und Voreingenommenheiten abbauen.
Heute vor einer Woche haben mehr als 1500 Menschen in dieser Stadt gegen den Rechtsruck demonstriert: Jusos, Grüne Jugend, antifaschistische Aktionsgruppen, Linke, Attac, Gewerkschaften und viele mehr. Auf der Straße waren vor allem junge Menschen.
Der Ton auf dem Kundgebungs-Lkw war außerordentlich sympathisch, genau richtig für ein breit aufgestelltes Bündnis. Aufklärerisch und solidarisch, kämpferisch und motivierend. Unser alter Freund Peter Grohmann hat zum Abschluss einen schönen poetischen Text von Kurt Tucholsky über den Umgang mit Faschisten vorgetragen. Und nach dieser fast dreistündigen Demo war mir wohler. Es sind solche Aktionen, die Hoffnung machen.
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 ist einst aus wachsendem Unmut, aus dem Zorn gegen die Selbstherrlichkeit der Herrschenden entstanden – und nicht nur mit dem Ziel, bedrohte Bäume und Käfer zu schützen. Wer bis heute dabei ist – und heute sind es wieder ganz schön viele –, weiß doch nur zu genau, dass sich unser Protest nicht nur gegen ein Milliarden verschlingendes Bauprojekt richtet. Sondern gegen eine verlogene Politik zu Gunsten von Profiten – ohne Rücksicht auf Menschen und die soziale Verantwortung. Wir haben doch gerade gesehen, was dabei herauskommt, wenn konventionelle Parteien über Gerechtigkeit schwafeln – weil
ihren Marketingtextern nichts Besseres einfällt, um den Leuten etwas vorzugaukeln. Wir sehen doch, wohin die verheerende Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft führt: nämlich extrem nach rechts. Und damit zu einer Partei, die brutale Angriffe nicht nur auf hart erkämpfte soziale Errungenschaften plant. Sogar Hartz IV und die Renten will sie zu kürzen, Unternehmen von Sozialleistungen befreien und Reiche noch weniger besteuern als schon jetzt.
Diesen asozialen Ungeist finden wir aber nicht nur bei den Rechtsnationalen. Das Medienspektakel nach dem Wahlerfolg der Rechtsnationalisten lenkt in Wahrheit ab von einer feudalistischen Politik, die wir überall zu spüren kommen. Den Abriss- und Mietenwahnsinn in der Stadt habe ich immer wieder erwähnt, schon vor Jahren, um vor den verheerenden Folgen der Immobilienpolitik zu warnen. Politik und Wirtschaft haben Stuttgart 21 vor mehr als 20 Jahren aus Profitgier als Immobilienprojekt geplant und später hemmungslos durchgeprügelt.
Dennoch verbreiten Abwiegler und Opportunisten bis heute ihre unsinnige Meinung, Stuttgart 21 sei demokratisch legitimiert – nur weil man eine mit viel Propagandakohle manipulierte Volksabstimmung durchgeführt hat.
Liebe Freundinnen und Freunde, im Rathaus haben dieser Tage die Haushaltsberatungen begonnen.
Stuttgart ist eine reiche Stadt. Es wäre genug für alle da – würde das viele Steuergeld nicht nach Schäuble-Manier gebunkert und gehortet. In städtischen Kliniken herrscht erschreckende Personalnot. Da werden Menschen kaputt und krank gespart.
Darunter leiden neben den Patienten auch die Krankenpfleger, die sich – wie viele andere Normalverdiener – ohnehin keine Wohnung in Stuttgart leisten können. In diesem Zusammenhang muss ich einen AfD-Stadtrat zitieren, auch wenn ich diese Partei namentlich nur widerwillig erwähne. Dieser Stadtrat, er heißt Brett, sagte neulich, die Stadt
sei nicht dazu da, Menschen mit Wohnungen zu versorgen, die sich die auf neun Euro pro Quadratmeter erhöhte Sozialmiete nicht leisten könnten. Die sollen doch, fügte er hinzu, in den Kreis Göppingen gehen. Dort gäbe es noch Wohnraum. – Da muss doch auch dem Letzten aufgehen, wofür in dieser Partei der Buchstabe A steht.
Bei den Haushaltsentscheidungen wird man uns wieder erzählen, es gäbe nun mal verschiedene Töpfe – was für ein beschönigendes Wort für die Konten der Protz- und Prestigevorhaben, auf denen das Geld verschwindet, das Menschen in dieser Stadt dringend bräuchten. Und wie immer wird man uns sagen, diese verschiedenen Töpfe hätten nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun. Pech also für alle armen Tröpfe, wenn Politiker die falschen Töpfe mit Steuergeld vollstopfen. Oder Milliarden in Baugruben vergraben, um ihren Freunden aus der Immobilienbranche einen kleinen Gefallen zu tun. Wohin die Heiligsprechung, wohin der bedingungslose Bückling vor dem sogenannten freien Markt führt, das müsste doch inzwischen selbst die hinterwäldlerische SPD in unseren Breitengraden bemerkt haben. Wenn die so weitermacht, können wir demnächst womöglich mit leichtem Zuwachs in unserer außerparlamentarischen Opposition rechnen. Irgendwo müssen sie ja Unterschlupf finden, die letzten Sozen.
Liebe Freundinnen und Freunde, die von der Politik befohlene Attacke uniformierter Chaoten auf die Protestbewegung im Park vor sieben Jahren ist für uns heute alles andere als ein Ereignis, auf das man zurückblickt wie auf ein historisches Datum. Der 30. September 2010 ist nicht Vergangenheit, weil wir jederzeit mit brutalen Maßnahmen rechnen müssen, wenn wir uns der herrschenden Politik entgegenstellen. Schon deswegen ist es wichtig, so oft wie möglich unser grundgesetzlich verankertes Demonstrationsrecht zu nutzen. Schon um gegen alle weiteren Versuche zu kämpfen, die Versammlungsfreiheit einzuschränken.
Kein Mensch tut bei uns etwas Anrühriges oder gar Verbotenes, wenn er demonstriert oder streikt. Im Gegenteil: Er zeigt, dass
er Demokratie und Realpolitik ernst nimmt. Dass er wachsam ist und bereit, demokratische Rechte zu verteidigen. Dazu müssen wir stehen, auch wenn viele Gestrige meinen, demonstrieren oder streiken dürfe man nur, wenn es niemanden stört. Oder wenn man wie der Verein ‚Aufbruch Stuttgart‘ den Oberbürgermeister dazu einlädt, eine Aktion aufzuwerten, die man aus Gründen des guten Spießbürgerrufs nicht Demo nennen will, sie aber aus Kostengründen als solche anmeldet.
Bündnisse, liebe Freundinnen und Freunde, wachsen nicht aus schleimerischer Anbiederung. Unsere Verbündeten sind die, die etwas tun, damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinandergeht. Unsere Verbündeten sind die, die sich dem Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in unserer Stadt entgegenstellen. Unsere Verbündeten sind die, die sich für mehr Gerechtigkeit in unserer Stadt einsetzen. Im Landtag, im Gemeinderat oder auf der Straße.
Damit ist, wie Frau Merkel sagt, meine Zeit vorbei. Eines allerdings muss ich Ihnen noch sagen: Die vergangenen sieben Jahre waren für die Bewegung gegen Stuttgart 21 alles andere als magere Jahre. Aber die richtig fetten, die kommen erst noch.
In diesem Sinne: Wach bleiben, auf der Straße bleiben!
Der schwarze Donnerstag“ – 22 Minuten Video-Mitschnitte von „damals“
http://www.dailymotion.com/video/x62kr9s