Interview von Jürgen Horan vom Südkurier Konstanz

Suedkuerier 19-01-29 Aktivisten der 1. Stunde

Stuttgart 29. Januar 2019

„Für mich war es wie Krieg“: Zwei Aktivisten erzählen, wie die Montagsdemos gegen Stuttgart 21 begannen und wie sie den Schwarzen Donnerstag erlebt haben

Es war die 450. Montagsdemo gegen das Milliardenprojekt, die an diesem Montag in Stuttgart stattfand. Nach nunmehr neun Jahren ist der Protest gegen Stuttgart 21 mittlerweile bestens organisiert. Wir haben zwei Aktivisten der ersten Stunden auf der Demonstration begleitet – und unter anderem erfahren, warum sie ihren Protest fortsetzen.

450. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 28. Januar 2019 | Bild: Reinhardt, Lukas

von Lukas Reinhardt

„Oben bleiben, oben bleiben, oben bleiben!“ Es ist Montagabend in Stuttgart. Wie jede Woche um diese Zeit schallt dieser Sprechchor über den Bahnhofsvorplatz. Es ist das Mantra eines Protests, der im Herbst 2009 begann – und seither ungebrochen ist: Trotz Kälte und Regen haben sich die Stuttgarter Protestbürger zur 450. Montagsdemo versammelt, um einmal mehr gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 auf die Straße zu gehen.

Unter ihnen: Carola Eckstein und Jürgen Horan, die Revers ihrer Jacken mit Protest-Plaketten bespickt. Sie sind Aktivisten der ersten Stunden.

Carola Eckstein und Jürgen Horan sind Aktivisten der ersten Stunden gegen das Milliardenprojekt der Deutschen Bahn. Sie wollen nicht aufgeben. | Bild: Reinhardt, Lukas

Bei der dritten Montagsdemo eingestiegen – heute ist es Nummer 450

Carola Eckstein, 46, ist promovierte Mathematikerin und an diesem Abend Leiterin der Protestveranstaltung. Sie spricht mit einem Mann in Uniform: „Laufen Sie später einfach los. Sie kennen die Strecke ja“, erklärt der Polizist. Tatsächlich kennt Eckstein die Route in Richtung Rathaus genau.

„Bei der dritten Montagsdemo bin ich eingestiegen“, erinnert sie sich. Das war im Herbst 2009. Immer mehr Unterstützer schlossen sich in der Folge den Protesten an – und viele tun es bis heute: „Wenn man sieht, in welchem Ausmaß hier etwas schief läuft, kann man doch nicht einfach Zuhause bleiben.“

Aus der Protestbewegung ist eine Familie geworden

Zuhause bleiben konnte und wollte damals auch Jürgen Horan nicht mehr: „Ich war vorher noch nie auf einer Demo, aber als ich eines Abends vor dem Fernseher saß und sah, wie die Abrissarbeiten begannen, hielt mich nichts mehr auf dem Sessel.“

Anfang 2010 schließlich schloss sich der heute 70-jährige Rentner dem Protest an. „Wie heute standen schon damals die Leute vor dem Bahnhof – und es waren keine Birkenstockträger und Wollpullistricker. Es waren ganz normale Menschen.“ Heute ist aus der Bewegung eine große Familie geworden.

Eine „renitente Rentnerin“: Renate Rüter, 79, stellt sich seit nunmehr neun Jahren gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. | Bild: Lukas Reinhardt

Auch an diesem Abend stehen viele von damals wieder auf den Bahnhofsvorplatz. Einige von ihnen tragen runde Ansteckplaketten an den Revers ihrer Jacken: „Schwarzer Donnerstag – Wir vergessen nicht!“, prangt in schwarzen Lettern darauf, in Erinnerung an jenen Tag im Herbst 2010, als bei der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens für das Milliardenprojekt viele Menschen verletzt wurden. Die Polizei hatte damals Wasserwerfer und Pfefferspray gegen die Demonstranten eingesetzt, unter denen sich auch viele Schüler befanden. Miterlebt haben diesen Tag im Herbst 2010 auch Carola Eckstein und Jürgen Horan.

Erinnerungen an den Schwarzen Donnerstag brennen sich ein: „Für mich war es wie Krieg“

„Für mich war es wie Krieg“, sagt Jürgen Horan. Seine Stimme beginnt zu beben, als die Erinnerung an diesen Tag zurückkehrt: „Wer das Ganze im Fernsehen verfolgte, konnte einfach abschalten. Wer es selber miterlebt hat, bei dem hat es sich eingebrannt.“

Das Verwaltungsgericht Stuttgart stufte später den Polizeieinsatz als rechtswidrig ein. „Wenn so etwas passiert, weil Bürger sich gegen einen Bahnhof wehren, dann läuft etwas ganz grundsätzlich schief“, sagt Eckstein. „Ein Grund, warum wir auch heute, neun Jahre später, noch immer auf diesem Platz stehen“, schiebt Horan hinterher.

Vorwürfe gegen Ministerpäsident Winfried Kretschmann: „Verfassungsbrecher“

Auf der Bühne, in deren Richtung sich erwartungsvoll die Augen und Ohren der Demonstranten richten, hat mittlerweile ein prominenter Redner Mikrofon und Wort ergriffen: Der Journalist und Aktivist Arno Luik wettert gegen die Politik der Grünen im Ländle.

Arno Luik, Stern-Journalist und Aktivist gegen Stuttgart 21 hält eine Rede bei der 450 Montagsdemo. | Bild: Reinhardt, Lukas

Er spricht von einem schweigenden Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der die Finanzierung des Bahnhofs einst höchstpersönlich als „Verfassungsbruch“ bezeichnet habe und somit wohl selber „Verfassungsbrecher sei“, und prangert die explodierenden Kosten des Bahnprojekts an. Die Menge applaudiert.

Kostenexplosion: Zu Beginn 2,6 Milliarden Euro – heute 8,2 Milliarden Euro

Und tatsächlich: Mitte der 1990er wurden für das Projekt rund fünf Milliarden Mark, knapp 2,6 Milliarden Euro veranschlagt. Mittlerweile aber musste die Bahn diese Zahl mehrfach korrigieren.

Im Moment rechnet das Unternehmen mit Kosten von 8,2 Milliarden Euro. Weitere Steigerungen sind wahrscheinlich. Und auch das Jahr der Fertigstellung wurde verschoben: Statt 2021, wie im Namen verankert, wird nun mit 2025 gerechnet.

„Man weiß, dass man in die falsche Richtung fährt, und steuert trotzdem nicht gegen.“

Nicht nur bei den Demonstranten löst all das Unbehagen aus: Sogar Bahn-Vorstandschef Richard Lutz hatte 2018 vor dem Verkehrsausschuss des Bundestags gesagt: „Mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen“ – und löste damit erneut Unmut bei Gegnern wie Carola Eckstein aus. „Das ist schon absurd“, sagt die 46-Jährige. „Man weiß, dass man in die falsche Richtung fährt, und steuert trotzdem nicht gegen.“

Das Ziel lautet weiterhin: Den Bau von Stuttgart 21 stoppen

Aufgeben ist für die zwei Aktivisten deshalb keine Option, auch wenn es längst keine Tausende mehr sind, die Montag für Montag mit ihnen auf die Straße gehen. „Der Harte Kern sind aktuell 600 Leute“, schätzt Eckstein. Zum Höhepunkt des Protests nach dem Schwarzen Donnerstag seien es bis zu 100 000 gewesen: „Wir sind mit einem Sprint gestartet, mittlerweile ist es eine Art Dauerlauf – bis wir den Bau endlich stoppen, das bleibt unser Ziel.“

Am Abend der 450. Montagsdemo sind nach Angaben der Polizei 800 Demonstranten auf den Bahnhofsvorplatz gekommen, nach Angaben der Veranstalter 2500.

450. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 28. Januar 2019 | Bild: Reinhardt, Lukas

Im Anschluss an die Reden ziehen sie geschlossen in Richtung Rathaus, stets das Mantra wiederholend, das nun bereits seit mehr als neun Jahren Montag für Montag durch Stuttgart schallt: „Oben bleiben, oben bleiben, oben bleiben!“

 

Das umstrittene Projekt der Bahn

  • Mit Stuttgart 21 soll der Stuttgarter Hauptbahnhof vom Kopf- zum Durchgangsbahnhof umgebaut werden. Der Plan sieht vor, den Bahnhof samt Schienennetz unter die Erde zu verlegen und an den Flughafen Stuttgart anzubinden. Zudem sollte bis ursprünglich 2021 eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke von Wendlingen nach Ulm gebaut werden.
  • Die Abbrucharbeiten am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs begannen bereits im Sommer 2010. Im Anschluss nahmen die Proteste gegen das in der Bevölkerung umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 weiter zu. Nach offiziellen Angaben zogen teilweise mehr als 50.000 Demonstranten Woche für Woche friedlich durch die Stuttgarter Innenstadt.
  • Bei einer Volksabstimmung am 27. November 2011 haben sich die baden-württembergischen Wahlberechtigten mehrheitlich für den Tiefbahnhof S21 ausgesprochen. 58 Aktivisten kritisierten die Abstimmung damals als irreführend. (lre)
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