Zur Diskussion der Volksabstimmung Stuttgart21

Anschließend ein Brief vom Richter a.D. Dieter Reicherter an Jochen Stopper/
Grüne  – Gemeinderat in Stuttgart:

Sehr geehrter Herr Stopper,

Vielen Dank für Ihre Antwort. Darum, ob ich verärgert bin oder nicht, geht es überhaupt nicht, sondern darum, wie es mit einem verkorksten Projekt weitergehen soll.

Interessant, daß Sie einem Juristen die durch die Volksabstimmung entstandene Lage erklären wollen. Ich verweise jedoch zu diesem Thema auf die mir vorliegende schriftliche Auskunft der damaligen Landesabstimmungsleiterin Friedrich vom 13.02.2012, aus der ich wörtlich zitiere: „Gegenstand der Volksabstimmung war ausschließlich das S 21 – Kündigungsgesetz………   Nachdem die Gesetzesvorlage die nach der Landesverfassung erforderliche Stimmenmehrheit nicht erreicht hat, hat sich insoweit auch keine Änderung der Rechtslage ergeben.“

Doch auch logisch kann ich Ihre Argumentation nicht nachvollziehen. Wenn vor der Volksabstimmung gültige Verträge bestanden und hinterher auch, hat sich doch rechtlich nichts geändert. Oder inzwischen doch? Immerhin bietet ja Paragraf 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches bei einer schwerwiegenden Veränderung der einem Vertrag zugrunde liegenden Umstände die Möglichkeit einer Kündigung oder Vertragsauflösung.

Und zur politischen Bindung an die Volksabstimmung fand ich in der Stuttgarter Zeitung vom 30.01.2013 folgende Ausführungen:

„Während Ministerpräsident Kretschmann und die Mehrheit im Landtag, im Stuttgarter Gemeinderat und in der Regionalversammlung unumwunden zur Bindung des Votums der S-21-Volksabstimmung stehen, zweifeln zumindest zwei namhafte Grünen-Politiker diese Bindung an: Verkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Fritz Kuhn. Beide haben gegenüber der Stuttgarter Zeitung betont, daß die Legimitation des Volksentscheids in Anbetracht der von der Bahn eingeräumten Kostenexplosion „zunehmend zerbröselt.“

Noch weiter geht der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland, der an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer lehrt und einer der Väter der Volksabstimmung ist. Wieland sagt, daß das Bürgervotumnicht mehr verbindlich sei. Der Grund: das Volk habe den Ausstieg aus der Finanzierungsvertrag seinerzeit unter der Prämisse abgelehnt, daß die gesamten Baukosten den gesetzlichen Deckel von 4,426 Milliarden Euro nicht überschritten. Nachdem die Bahn nun aber Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro und weitere Risiken von bis zu 1,2 Milliarden Euro eingeräumt habe, sei die Grundlage der Abstimmung nicht mehr existent. Damit sei auch ein Ausstieg aus Stuttgart 21 möglich.“

Hat sich die vor fünf Jahren geäußerte Meinung auch Ihrer Parteikollegen zuum Wegfall der Bindung deswegen geändert, weil die Kosten weiter explodiert sind und jetzt fast beim Doppelten des Kostenrahmens liegen? Soll eine einmal getroffenen Entscheidung, wenn sie sich später als unzweckmäßig erweist, für alle Ewigkeit gelten? Dann könnte man Gesetze nie ändern und umgesetzte Vorhaben nie reformieren. Und die GRÜNEN könnten ihr Parteiprogramm nie ändern.

Es trifft zu, daß die Gegner von Stuttgart 21 noch bei keiner Wahl eine Mehrheit erringen konnten. Bislang habe ich Sie aber nicht verstanden, daß es verboten wäre, auf demokratischem Weg für eine Änderung der politischen Mehrheiten zu werben. Sonst hätte es ja auch für die GRÜNEN keinen Sinn gemacht, sich früher gegen das Projekt zu stellen, denn die Mehrheitsverhältnisse waren damals genauso. Wie eine Änderung der Willensbildung trotz unveränderter Mehrheitsverhältnisse funktionieren kann, hat uns beispielsweise der Ausstieg aus dem Atomausstieg deutlich gemacht.

Will man für seine Überzeugung nicht kämpfen, kann man selbstverständlich eine Politik des „Weiter so“ einschlagen. Fraglich ist nur, ob die Realitäten der Vorstellung einer Alternativlosigkeit folgen.

Der eigentliche Grund für meine Antwort zu Ihrem Schreiben ist jedoch der letzte Absatz Ihrer Mail, die mich am Schmutzigen Donnerstag erreichte. Sicher kein Zufall. Ich gehöre weder dem Aktionsbündnis an noch habe ich in dessen Auftrag oder auch nur mit dessen Wissen Ihnen geschrieben. Von daher verstehe ich Ihre Seitenhiebe gegen das „Restbündnis überhaupt nicht und ich meine, diese haben hier auch nichts zu suchen. Deutlich bringe ich zum Ausdruck, daß Sie diesem „Restbündnis“ eine faktenorientierte, sachlich und politisch seriöse Argumentation absprechen. Ich finde, diese Herabwürdigung hat mit einer Faktendiskussion nichts zu tun. Deshalb wäre ich dankbar, wenn Sie mich aufklären könnten, welche Unwägbarkeiten, Probleme und Kostenrisiken Sie beim Umstieg 21 konkret sehen und was bei diesem Konzept unseriös ist.

In Zeiten, in denen eine versteckte Bierflasche mit Käferresten im Rosensteinpark schon dazu reicht, vom Versagen der Bahn abzulenken und die Projektgegner zu verunglimpfen, halte ich ein Versachlichung der Debatte für dringend geboten.

Mit freundlichen Grüßen      Dieter Reicherter    Althütte

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