Kostenexplosion? Klasse!
Wieder einmal zum Ende eines Jahres, wenn der Schneeregen die Jacken durchnässt, war der Widerstand gegen Stuttgart 21 in Gefahr gekommen, sanft zu entschlafen. Die Mantelkrägen oben und die Laune unten, so sah es vielfach bei den personell stark bröckelnden montäglichen Demonstrationen gegen den Bahnknoten aus. Dann, Ende November, wurde die Neuberechnung der Deutschen Bahn für das Gesamtprojekt bekannt. Die Kosten steigen demnach von 6,5 auf 7,6 Milliarden Euro. Und die Fertigstellung des Baus verzögert sich um vier Jahre bis 2024.
Für die Gegner hat die Nachricht von der „Kostenexplosion“ die Wirkung einer belebenden Infusion. „Wenn einer aus der Politik auf den roten Knopf drückt, zack, aus, dann ist es vorbei“, sagt jetzt Jürgen Horan, der zur Truppe von rund 200 Eisernen gehört, die schichtweise an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr Mahnwache in einem Zelt gegenüber des Stuttgarter Hauptbahnhofs halten. Heizgerät, Teekocher, Klappstühle mit dicken Decken – sie wissen nach all den Jahren, wie man den Winter übersteht. Ab und zu fallen Münzen in die Spendenblechbüchse auf einem Tisch.
Das Ende des Projekts, glaubt der Rentner Horan, ein früherer Betriebswirt aus einer SPD-Wähler-Familie, ist nah. Zu seiner Kindheit in Stuttgarter Halbhöhenlage habe der tägliche Blick auf den Bahnhof gehört, der längst nur noch ein Torso ist. Das Mantra von der Unumkehrbarkeit des Bauprojekts „ärgert mich wahnsinnig“, sagt er. Seiner Meinung nach ist Stuttgart 21 „wie ein Brennglas auf die Politik“. Das Wort von der Alternativlosigkeit sei ja auch in anderen empörenden Zusammenhängen modern geworden.
Die Bagger haben sich mittlerweile weit um den Bahnhof in die Erde gefressen. Der Autoverkehr, ohnehin eine Qual im schwäbischen Talkessel, muss weite Bögen machen, der zentrale Busbahnhof der Stadt ist bis auf Weiteres aufs Flughafengelände weit oben auf den Fildern verlegt worden. Die S-Bahnen dorthin fahren immer wieder unpünktlich, die Busse selbst sind zu Stoßzeiten völlig überfüllt. „Man hält es in der Stadt nicht aus mit der schlechten Luft“, klagt Rike Kohlhepp, 50, selbstständige Geigenlehrerin und seit Jahren Spendensammlerin bei den Demonstrationszügen. „Wir nehmen viel zu stark hin, wie die Dinge sind.“
„Hochgradige Verschleuderung von Milliarden Euro“
Für eine ganze Reihe von Landespolitikern bleiben Kohlhepp & Co. Quälgeister, die böswillig das Prinzip der parlamentarischen Demokratie untergraben wollen. Zum Beispiel für den Ulmer SPD-Landtagsabgeordneten Martin Rivoir. Nach Bekanntwerden der Kostensteigerung um eine weitere Milliarde Euro bescheinigte er den Gegnern im 100 Kilometer entfernten Stuttgart, sie vergössen „Krokodilstränen“. Ihr „Ziel“ sei es stets gewesen, das Bahnprojekt „zu verzögern und damit zu verteuern“. Vereinzelte Grüne bedauern, die Bauverzögerungen seien dem „Bauen im Anhydrit“ geschuldet. Das erfordere deutlich dickere Tunnelwände als gedacht. Alle neuen Bahntunnel im Stuttgarter Stadtgebiet führen durch Felsformationen mit Anhydrit. Das Mineral reagiert mit Wasser und verwandelt sich in Gips. In der Folge dehnt sich der Boden stark aus – wie Hefe bei Wärme. Die Folgen für die Tunnelröhren sind im Voraus schwer zu berechnen.
Nach Jahren des Bauens ist der geplante unterirdische Durchgangsbahnhof immer noch eine Vision, die nur in den Computeranimationen der Deutschen Bahn lebendig wird. Matthias von Herrmann, Pressesprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, zeigt auf ein Kleingebäude im Bautrog. Es ist die Pumpstation für Stuttgarts wichtigstes und größtes Abflussrohr, der sogenannte Nesenbach-Düker. Das Riesenrohr mit sechs Metern Durchmesser muss, um die neuen Bahnsteige bauen zu können, auf mehr als 20 Meter Tiefe gebracht werden, in eine Erdschicht, die nah an Stuttgarts Thermalwasservorkommen liegt. Die Schlüsselaufgabe ist bisher unbewältigt. Herrmann war früher Greenpeace-Aktivist, er weiß alles über Sitzblockaden und Kampagnen. Sachinformationen, ist seine Überzeugung, wirken mittlerweile öffentlich stärker als Wutgeschrei. Er zeigt ein bahninternes Planungspapier aus dem Jahr 2010. Dort steht als Fertigstellungsdatum für das tiefergelegte Abwasserrohr noch der 27. Mai 2013.
Für die Montagsdemonstranten ist der Lärm ein durchaus probates Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeit. Während der Adventszeit müssen sie den Buden des Stuttgarter Weihnachtsmarktes weichen. Bei herüberwehendem Glühwein- und Bratwurstduft prangert der Aktionssprecher Eisenhart von Loeper eine „hochgradige Verschleuderung von Milliarden Euro“ an. Den rund 300 Demonstranten ruft er in Bezug auf die Deutsche Bahn zu: „Wir wollen den Aufsichtsrat zum Umsteuern von S21 ermutigen.“ Die Gegner haben eigene Computeranimationen für einen Bahnhof entworfen und ins Netz gestellt, der oberirdisch bleibt. Es ist auch ein Kampf der bunten Digitalbilder.
Geld ist kein Problem. Rund 2.000 Euro kostet die Gegner allein der Auf- und Abbau der Montagsbühne Woche für Woche. Die Musiker und Redner treten gratis auf. Doch unablässig rieseln seit Jahren die Kleinspenden in die Schüttelbüchsen. Zu den Demos kämen vor allem die „Hardliner“, sagt ein Teilnehmer, aber in der Stadt gebe es viele sympathisierende „Schläfer“. Die Aktivisten hoffen auf die nächste ganz große Nummer am 15. Januar. Dann kommt es zur 400. Montagsdemo, Motto: „Sie lügen – wir demonstrieren“.
Eine Woche vor Weihnachten handelte der Bahn-Aufsichtsrat. Manfred Leger, dem Chef der Bahn-Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm (PSU), wird mit Olaf Drescher ein zweiter Geschäftsführer zur Seite gestellt. Drescher soll sich verstärkt um die Lösung technischer Probleme kümmern.
Vom kleinen Schlossplatz aus setzt sich der vorletzte Demonstrationszug des alten Jahres in Bewegung. Vorweg die übliche Trommelcombo namens Lokomotive, seitlich postiert die Beamten der Stuttgarter Verkehrspolizei, am Schluss des Feldes die Bläser der Formation Capella Rebella. Vorn schreien sie „Oben bleiben!“, hinten wird der Gassenhauer Wer soll das bezahlen? intoniert. Ihre Musik, sagt Capella-Trommler Rüdiger Schmidt, 61, solle nicht nur die Aufmerksamkeit steigern. „Wir wirken auch deeskalierend.“
Am Hauptbahnhof löst sich der Zug allmählich auf. Wer genau schaut, sieht die erste und bisher einzige der berühmten, später bis zu zwölf Meter hohen Kelchstützen des Bahnhofsarchitekten Christoph Ingenhoven aus der Erde wachsen. Ingenhoven selbst glaubt, für unter zehn Milliarden Euro sei das Bahnprojekt am Ende nicht zu machen. Die Baufirmen kämpfen darum, seine künstlerisch anspruchsvollen Stützen standfest zu bekommen. In Berlin kündigt der Bahnvorstand Ronald Pofalla an, sich nun auch selbst stärker um das Projekt im tiefen Süden kümmern zu wollen.