Weltklimakonferenz in Bonn November 2017 / Klimawandel und S21

Rede von Volker Lösch am 11. November 2017 in Bonn zur Klima-Demo

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!
Wir sind Aktivistinnen und Aktivisten, die seit über 10 Jahren gegen Deutschlands teuerstes, sinnlosestes und dümmstes Infrastrukturprojekt kämpfen. „Stuttgart21“ ist eine skandalös korrupte Gelddruckmaschine für die Bau-und Immobilienwirtschaft.
Mit unzähligen seriösen Gutachten und Untersuchungen beweisen wir seit Jahren, dass es sich bei „S21“ um einen Rückbau handelt und dass mit Milliarden von Steuergeldern in Stuttgart ein Bahnhof entstehen soll, der weniger leisten würde als der jetzige Kopfbahnhof.

Aber alle Fakten, die mehrfach zum Abbruch des Bauprojekts hätten führen müssen, werden von der Mehrheit der politischen Parteien ignoriert. Sie legitimieren ihre „S21“-Politik immer wieder mit einer Volksabstimmung, deren inhaltliche Grundlagen inzwischen alle entfallen sind. Jeder in Stuttgart weiss, dass es bei „S21“ immer um Baugrundstücke und schnellen Profit ging und nie um einen fortschrittlichen Bahnhof. Alle wissen, dass der Schienenrückbau nicht im Interesse der Menschen, sondern allein wegen der Auto- und Immobilienlobby stattfinden soll.

Und dennoch wird weitergebaut. Die nächste Kostenexplosion auf vermutlich 10 Milliarden Euro und der nächste Zeitverzug auf vermutlich 2026 werden in der Dezembersitzung des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn zugegeben werden. Das Projekt ist de facto schon lange gescheitert, es ist aber noch nicht beendet. Und deswegen kämpfen wir auch im achten Jahr mit inzwischen fast 400 Montagsdemos in Folge und vielen Großdemos und Initiativen weiter, juristisch und aktivistisch – und wir werden nicht aufhören zu protestieren, bis diesem neoliberalen Spuk ein Ende bereitet  wird!

Das große Durchhaltevermögen dieser Bewegung ergibt sich auch daraus, dass wir sehr früh erkannt haben, dass es in Stuttgart um mehr als nur einen Bahnhof geht. Der Slogan „Das Prinzip S21 ist überall“ beschreibt anschaulich, dass „S21“ für viele sinnlose Großprojekte steht.
Großprojekte, die ohne Anhörung der Bevölkerung geplant und auf den Weg gebracht werden.
Großprojekte, die dann juristisch kaum zu stoppen sind.
Großprojekte, die für einen rücksichtslosen und rein expansiven Wachstumsbegriff stehen.
Großprojekte, die monopolistische Marktmächte etablieren.
Großprojekte, deren Bau mit Lärm und Gestank zur Dauerbelastung werden.
Großprojekte, die für die Allgemeinheit die Lebensqualität mindern.
Großprojekte, die die Steuerzahler mit Staatsgarantien finanzieren und
die dann wenigen viel Geld und vielen nichts bringen.
Großprojekte, die die Städte an Investoren ausverkaufen.
Großprojekte, die urbane Räume in Konsumghettos verwandeln.
Großprojekte, die Städte zu gated communities für Besserverdienende und Reiche machen.
Großprojekte, die Arme und Schwache ausgrenzen und verdrängen.
Großprojekte, die der Umwelt und dem Klima nachhaltig schaden.
Großprojekte, die den Klimawandel beschleunigen!

Und in dieser brutalen Form der scheinbar alternativlosen, profitgetriebenen Ökonomie ist auch „Stuttgart21“ ein Synonym für einen beträchtlichen Klimaskandal.

Gerade haben wir in Stuttgart ein Gutachten des Münchner Verkehrsplaners Karlheinz Rößler zu den Treibhausgasemissionen durch Bau, Betrieb und Unterhalt von „S21“ vorgestellt. Es geht um einen Bezugszeitraum von dreißig Jahren. Also um die für diesen Planeten entscheidende Zeitspanne.

Die Fakten sind ernüchternd, hier nur die zwei wichtigsten:

– Für den Tiefbahnhof und sechzig Kilometer Tunnel werden über sechs Millionen Tonnen
Stahlbeton benötigt – für die Bahnhofshalle, Tunnelwände und Gebäudedecken, Stützen und Betonschwellen. Riesige Mengen Stahl werden auch für die 18 Brücken benötigt, die für „S21“ erstellt werden. Pro Tonne Beton werden 130 Kilogramm CO₂ freigesetzt. Der benötigte Stahl und Beton für die Tunnelbauten setzt 1,9 Millionen Tonnen an Treibhausgasen frei.

Und auch im Falle einer Fertigstellung würde die Klimabelastung weiter gehen: Weil der Bahnhof zu klein sein würde, werden jetzt schon unterirdische Erweiterungen diskutiert. Und weil zwanzig Tunnelkilometer durch quellfähiges Material – den sogenannten Gipskeuper – gehen, wird es einen permanenten Sanierungsbedarf geben. Die Bauindustrie hat sich hier also einen Dauerauftrag geschaffen!

– Zweitens: „Stuttgart21“ ist verkehrstechnisch ein Rückbauprojekt. Weil der unterirdische
Bahnhof mit nur acht Gleisen maximal 32 Züge pro Stunde bewältigen kann, 24 Züge weniger als der jetzige Kopfbahnhof. Halb so viele Gleise wie jetzt bedeuten aber: Der Verkehr wird auf die Straße verlagert. Es würden zusätzliche 17,5 Milliarden PKW-Kilometer hinzukommen, plus 5,6 Milliarden PKW-Kilometer durch wachsende Mobilität, die „S21“ nicht aufnehmen könnte.

Das erschütternde Ergebnis der Studie ist: Je nach Szenario werden durch den Bau als auch Betrieb von „Stuttgart 21“ in den nächsten Jahren zwischen 3,5 und 5,6 Millionen Tonnen  zusätzliche Treibhausgase freigesetzt werden!

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, wer die Bedrohungen der Erderwärmung ernst nimmt, muss radikale Konsequenzen ziehen, und zwar jetzt sofort . Beton und Stahl sind Dreckschleudern, und das Projekt „S21“ fällt klimapolitisch vollkommen aus der Zeit. Zwar stehen inzwischen etwas mehr als die Hälfte der Tunnelstrecken bereits im Rohbau, was schon eine Million Tonnen Treibhausgase verursacht hat. Durch einen Projektstopp könnte aber der größte Teil der Emissionen immer noch vermieden werden. Dem Weltklima blieben je nach Szenario 2,5 bis 4,6 Millionen Tonnen CO₂ erspart! Wir verlangen den Ausstieg aus der Kohle, den Ausstieg aus den fossilen Antrieben und den sofortigen Ausstieg aus „Stuttgart21“! Was uns in Stuttgart schier wahnsinnig macht ist die Tatsache, dass ein Baustopp – im Gegensatz zum Beispiel zum „Kohleausstieg“ – sofort beschlossen werden kann. Der Kopfbahnhof besteht jaweiter, und die Bürgerbewegung hat ein schlüssiges Umstiegskonzept vorgelegt, das die bisherigen Bauten und Zerstörungen umnutzen würde. Es gibt also Alternativen zumunterirdischen Bahnhof!

Unsere Erfahrungen sind aber, dass die politischen Vertreter*innen, ob von CDU, SPD oder den GRÜNEN, die Interessen der Bürger*innen nicht vertreten. Ihr werdet alle den dummdreisten Kommentar unseres S-Klasse fahrenden Ministerpräsidenten Kretschmann zu „S21“ kennen: „Der Käs is gesse“. Das meint dasselbe wie Merkels Mantra von der „Alternativlosigkeit“: „Wir würden vielleicht gerne, aber wir können nicht.“ Diese Politik ist zum bloßen Steigbügelhalter fürs Ökonomische verkommen, sie schadet der Demokratie, dem sozialen Frieden, und sie schadet dem Klima. Das ist verantwortungslose, das ist visionslose, das ist schlechte Politik!
Die Menschheit braucht aber gute Politik. Gute, verantwortungsvolle, mutige und visionäre Politik, und diese Politik wird von unten kommen! Von den Bürgerbewegungen, den außerparlamentarischen Initiativen, von euch allen, die ihr heute hier seid. Die etablierte Politik braucht den klimapolitischen Widerstand, sie braucht unseren Druck und unser Durchhaltevermögen, und sie wird diese Kraft zu spüren bekommen: durch noch größere Demonstrationen, noch mehr Petitionen und Kundgebungen, durch viele Bürger- und Stadtteilinitiativen, durch vielfältigste Kulturprojekte und durch wachsenden zivilen Ungehorsam – durch alle möglichen Aktionen, die die Demokratie auf lokaler Ebene stärken und die globale Bündnisse stiften.
Heute hier und morgen dort, sind wir überregional unterwegs, international vernetzt, und wir werden immer mehr. Wir haben die Macht der Vielen, die diese Welt verändern wird!

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Großprojekte können scheitern, das zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf wurde nicht in Betrieb genommen. Das Kernkraftwerk Whyl erst gar nicht gebaut. Und der Schnelle Brüter in Kalkar ist ein Milliardenprojekt, das inzwischen als Freizeitpark dient! Das alles ist politisch aktiven Bürgerbewegungen zu verdanken. Es zeigt, dass durch das Engagement der Vielen alles möglich ist, mag auch noch so vehement das Gegenteil behauptet werden.

Wir können durchsetzen, dass ein verbindlicher Fahrplan für den Kohleausstieg erstellt wird!
Wir können die Lüge entlarven, mit der die Atomlobby sich als Klimaretter inszeniert!
Wir können den Ausstieg aus den fossilen Energien bis 2030 durchsetzen!
Wir können ressourcenschonende Produktion einfordern, und nachhaltigen Konsum als
Lebensform etablieren!
Wir können Waffenexporte erfolgreich bekämpfen!
Wir können durchsetzen, dass Menschen, die wegen des von uns verursachten Klimawandels
fliehen müssen, ein Bleiberecht bekommen!
Wir können verhindern, dass weltweit die Lebensgrundlagen Vieler weiter zerstört werden, dass
immer mehr Menschen vertrieben werden!
Wir können die angeblich alternativlose Wachstumsideologie radikal in Frage stellen!
Wir können neue Gesellschaftsentwürfe erfinden und durchsetzen!
Wir können immer mehr werden und unser persönliches Engagement steigern!
Wir können alles, wenn wir nur wollen!

Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben eine große Verantwortung.
Denn es geht klimapolitisch, waffentechnisch, verteilungsökonomisch und gleichheitsrechtlich ums Ganze.
Wir haben nicht mehr viel Zeit, und es gibt keine Ausreden mehr.
Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.
Wer kämpft, kann verlieren.
Wer aber nicht kämpft, hat schon verloren!
Ein herzlicher Gruß aus Stuttgart an die Welt:
Kohle bleibt unten, Bahnhof bleibt oben. Wir werden OBEN BLEIBEN!
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