Rede von Joe Bauer bei der 215. Montagsdemo am 24. März 2014

Schönen guten Abend, meine Damen und Herren,

eigentlich dürfte ich heute hier gar nicht antreten. Die Tageszeitungsjournalisten sind nämlich seit diesem Montag im Streik …

Viele sagen, die Montagsdemo sei nur noch ein Gewohnheitsritual. Das ist falsch. Das Gegenteil ist richtig. Genau mit diesem Ritual brechen wir montags um sechs den Schlendrian der Besserwisser: nämlich die Gewohnheiten des Nichtstuns und des Wegsehens, des Ja-Sagens und des Resignierens. Diejenigen, die wissen, dass politische Opposition heute fast nur noch auf der Straße möglich ist, werden sich eines Tages nicht wie all die Schlafmützen in die übliche Ausrede flüchten: Verzeihung, wir haben nichts gewusst, es hat uns keiner gesagt, was in dieser Stadt läuft. Gegen diese Feigheit, gegen die Bequemlichkeit und Unterwürfigkeit kämpfen wir mit dem demokratischen Mittel der Demonstration. Das ist unser Recht und unsere Bürgerpflicht.

Und deshalb sind wir hier montags um sechs, und zwar an einem passenden Ort: In diesem Rathaus zur Ihrer Rechten sitzen Parteipolitiker, die über Dinge in der Stadt entscheiden, von denen viele von ihnen oft gar nichts wissen, weil sie ihre Stadt nicht kennen. Eine Stadt, die nicht den Investoren und ihren Partei-Lobbyisten, sondern uns allen gehört. Es ist dumm und überheblich, wenn die F.A.Z. schreibt, in Stuttgart demonstriere eine „Anti-Bahnhofsbewegung“. Wir sind nicht gegen Bahnhöfe. Wir sind gegen die Vereinnahmung einer ganzen Stadt durch Investoren und Spekulanten. Wir sind gegen die Lügenpolitik von Leuten wie dem Bahnchef Grube, der für seine Lobby-Treffen mit Politikern Gehalts-Boni kassiert. Und wir sind für den Kampf um unsere demokratischen Bürgerrechte. Im Übrigen, und das ist jetzt ein optisches Problem: An den Tagen, da auf diesem Marktplatz keine ehrbaren Obst- und Gemüsehändler zugange sind, hat er so viel Charme wie ein Amtszimmer im Rathaus. Deshalb ist es ein Akt der Stadtbelebung, wenn montags um sechs aufgeweckte Menschen den Marktplatz füllen, um sich mit den Machenschaften in dieser Stadt auseinanderzusetzen und sie aufzudecken.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Kaufmann hat neulich verlautbart, zu den Montagsdemos auf den Marktplatz kämen nur noch „ein paar Versprengte“. Es passt zur Gesinnung seiner Partei, dass er von Versprengten spricht: einen Begriff aus der Militärsprache benutzt. Die Parteisoldaten sind immer schnell dabei, mit Kriegsfloskeln an den Stammtischen ihrer versprengten Wähler Eindruck zu schinden. Und wenn sie ihren Gegnern nach alter Sitte keine Gewalt unterstellen können, dann faseln sie etwas von Gesinnungsterror. Gesinnungsterror ist für sie, wenn einer sagt: Sex ist nicht nur zwischen Männlein und Weiblein ein Vergnügen; Spaß bereitet die Liebe auch in anderem Geschlechter-Mix. Eine demokratische Gesinnung dagegen ist, wenn der CDU Scharfmacher Hauk sein Spießer-Gelaber verbreitet: Wir haben ja gar nichts gegen Schwule, es gibt sogar ein paar Versprengte in der CDU, aber normal ist das nicht. Diese reaktionäre Menschenfeindlichkeit nennt man heute auch Toleranz.

Ein paar Versprengte sind wir also auf diesem Marktplatz, demnach die Letzten der Aufrechten, die man im Wortsinn mit Gewalt auseinandergetrieben hat. Dieses Bild aber erkenne ich nicht, wenn ich auf den Marktplatz schaue. Ich sehe Leute, die Freude und Spaß daran haben, hier zusammenzukommen, zuzuhören und sich auszutauschen. Leute, die etwas tun, weil ihre gewählten Politiker nichts tun, wenn es gilt, Courage zu zeigen. Wenn es darum geht, sich um die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieses Landes zu kümmern.

Stuttgart 21, meine Damen und Herren, geht angeblich problemlos seinen Gang. Das S-Bahn- und U-Bahn-Chaos etwa, hören wir dauernd, hat selbstverständlich nichts damit zu tun, dass eine ganze Stadt für S21 umgebaut und untertunnelt wird, um Profitinteressen zu befriedigen. Und damit es keiner merken soll, dass die Dinge dauernd schief gehen, wartet man mit den härtesten U-Bahn-Eingriffen, bis der Kirchentag im nächsten Jahr vorbei ist. Die Wahrheit sehen wir so erst nach den Spielen, wenn die Gäste abgezogen sind.

Diese Methode ist seit jeher üblich bei selbsternannten Städtebauern, die am Machbarkeitswahn leiden. Vielleicht aber sind die Kirchentag-Gänger im kommenden Jahr auch mal mutig genug, einen Choral anzustimmen über den Zorn Gottes beim Blick auf das idiotischste Machwerk seit dem Turmbau zu Babel.

Klar haben die Leute, die inzwischen schweigen, Gründe für das politische Nichtstun. Sie glauben, sie hätten keine Chance mehr, etwas zu ändern. Der Protest sei aussichtslos. Sie sehen keine Erfolge, haben in der Vergangenheit womöglich ihre Belohnung vermisst, als sie noch selbst protestierten. Dieses Denken ist nachvollziehbar, weil der Mensch, der kämpft, auch siegen will. Dieses Denken allerdings führt zu dem, was man fälschlicherweise Politik-Verdrossenheit nennt. In Wahrheit gilt der Unmut der Nichtwähler und Paralysierten nicht der Politik, sondern den Politikern der Parteien, deren Versprechen immer nur Lügen folgen. Selbstverständlich ist jeder der Dumme, der denkt, er könnte mit Wahlen etwas ändern. Einige haben beim Gedanken an Stuttgart 21 die bevorstehenden Kommunalwahlen trotzdem zu einer Schicksalsentscheidung erklärt. Das ist Unfug. Nicht mal von unseren besten Freunden im Gemeinderat können wir erwarten, dass sie die Dinge in unserem Sinne verändern. Was gute Abgeordnete aber tun können, ist dies: Sie können uns informieren und Schweinereien aufdecken, und zwar auch auf diesem Lastwagen, auf dem ich gerade stehe. Machen wir uns nichts vor: Die vermeintlich links orientierten Oppositionsparteien in dieser Republik haben, sobald sie an der Macht waren, noch immer alles dafür getan, die bessere CDU zu sein. Vor allem wenn es darum ging, Bürgerrechte zu beschneiden. Das war bei der SPD in den Siebzigerjahren nicht anders als heute bei den Grünen.

Die parlamentarische Politik ist eine Sache von Marketing, von Propaganda. Und eines habe ich in diesem Zusammenhang gelernt: Ohne den engagierten Protest gegen Stuttgart 21, ohne die vielen Demos und Kundgebungen wäre ich vermutlich so naiv wie früher, als ich dachte, Häuser würden gebaut, weil man sie zum Leben oder zum Arbeiten braucht – und nicht, weil sich mit Immobilienspekulationen Milliarden verdienen lassen; am besten, wenn diese faulen Geschäfte mit Milliarden Steuergeld gegen die Interessen der Steuerzahler gemacht werden. Der Protest, und daran sollten wir immer denken, bringt auch denjenigen etwas, die der Meinung sind, das Größenwahnprojekt sei nicht mehr zu stoppen. Der Protest bringt ihnen Durchblick, Aufklärung und das gute Gefühl, nicht allein zu sein. Wir dürfen den Projekt-Betreibern nicht den Gefallen tun, aus privaten Frustgründen die Klappe zu halten und zu Hause zu bleiben. Dann könnten die Propagandachefs zu Recht behaupten: Wir haben sie versprengt, der böse Wolf hat die Schafherde aufgerieben. Es kann doch nicht sein, dass wir den Verlautbarungsmaschinen das Feld überlassen, diesen nicht mal sonderlich begabten Marktschreiern wie Hauk oder Dietrich.

Es ist Ende März, meine Damen und Herren, vor ziemlich genau drei Jahren ist die Kretschmann-Schmiedel-Regierung ins Amt gewählt worden. Ihre düsteren Tage haben längst begonnen. Wir hier auf dem Marktplatz aber erleben seit Beginn des Protests gegen Stuttgart 21 bereits unseren fünften Frühling. Und dieses Jubiläum müssen wir feiern. Der Protest der angeblich Versprengten ist dazu da, Grenzen zu sprengen: die Grenzen der Denkfaulheit, die Beschränktheit der Mitmacher und der Langweiler.

Oben bleiben bedeutet schon lange nicht mehr Bahnhof, oben bleiben heißt: Kopf hoch. Und nicht vergessen: Für die, die heute oben sind, könnten schon morgen die Luft ziemlich dünn werden.

Vielen Dank.

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